Was ist ein Geistesblitz? Wie kommt es zu falschen Erinnerungen? Sitzt das Bauchgefühl im Kopf? Was passiert beim Tagträumen? Können wir bewusst vergessen? Gibt es im Gehirn Raum für eine Seele?
Gespräche mit 17 führenden internationalen Gehirnforscherinnen und Gehirnforschern zu Bewusstsein und künstlicher Intelligenz, Traum und Schlaf, Sucht und Drogen, Lernen und Gedächtnis und zur Zusammenarbeit zwischen Gehirn und Darm.
Vorwort
Ursprünglich hätte es für ein Schweizer Magazin einen längeren Text zum Gehirn geben sollen: fünfzig Fragen zu unserem Denkorgan, sechs bis acht Seiten, illustriert mit Bildern. Ich vertiefte mich in Lektüre über das Gehirn, las Bücher, studierte Studien. Schrieb Fragen über Fragen auf. Mich interessierte Alltägliches, das, was uns allen passiert: Ein Wort liegt uns auf der Zunge, aber wir können es partout nicht sagen. Weshalb nicht? Was ist in unserem Gehirn blockiert? Und Allnächtliches: Wieso verlieren wir im Schlaf das Bewusstsein? Ich schrieb die Frage auf den Block, die Neurowissenschaftler und Philosophinnen möglicherweise bis in alle Ewigkeit beschäftigen wird: Wie entsteht Bewusstsein?
300 Fragen hatte ich zusammengetragen. Für die Antworten suchte ich nach Neurowissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern. Auf Universitäts-Homepages, in Neuro-Sciences- Netzwerken und in Studien recherchierte ich Spezialistinnen und Spezialisten. Fürs Gedächtnis, für Lernprozesse, für psychische Krankheiten, für Sucht, für Schlaf, für Neuroplastizität, für neurophilosophische Fragen, für das Zusammenspiel zwischen Gehirn und Darm. Mit 17 Frauen und Männern konnte ich über das Gehirn diskutieren. Rund zwanzig Fragen bekamen mehrere Wissenschaftler gestellt. Die einen antworteten auf dieselbe Frage ähnlich, andere komplett unterschiedlich, und eröffneten mit ihren Ansichten immer wieder neue Welten.
Es gab intensive Gespräche, anregende, inspirierende, zuversichtlich und nachdenklich stimmende. Und überraschende. Mit dem Neurologen, der die Idee eines Bewusstseins außerhalb des Gehirns verfolgt, weil er überzeugt ist, dass es noch andere Erkenntiswege gibt als die Naturwissenschaft. Und mit dem Neurobiologen, der ein erstaunliches Thema aufs Tapet brachte: Unser Gehirn funktioniert mit einer Zufallskomponente. Alle Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erklärten ihre Forschung und die Erkenntnisse, die sie daraus gewonnen hatten, so detailliert und verständlich, dass ich nur weniges für Laien übersetzen musste. Wurde es kompliziert, bekam ich einen Sachverhalt nochmals geschildert, Grafiken gezeigt und Hirnmodelle auseinandergenommen. Und weiß nun: Unser Kopf beherbergt ein Wunderwerk
03 »Schreckliche Erlebnisse können unser Genom verändern.«
Isabelle Mansuys Spezialgebiet ist die Neuroepigenetik. Die Professorin erforscht, wie Erfahrungen, die wir nicht vergessen, die Aktivität unserer Gene beeinflussen.
Sind bei Geburt alle Menschengehirne gleich? Nein. Menschen haben unterschiedliche Gen-Sequenzen und auch die epigenetischen Faktoren, welche die Aktivitäten des Genoms, insbesondere der Gene im Genom, regulieren, sind bei jedem anders. Manchmal sind die Unterschiede zwischen den verschiedenen Gehirnen nur minimal, manchmal sind sie auffällig groß.
Sie sprechen mit der Regulierung der Genom-Aktivität die Epigenetik an, was versteht die Wissenschaft darunter? Epigenetik ist ein Gebiet, das sich mit biochemischen Änderungen befasst, die auf die Erbsubstanz einer Zelle einwirken, konkret auf die DNA oder auf die Proteine, die an der DNA haften. Es handelt sich dabei um Prozesse, die das Erbgut selbst nicht verändern, aber die Aktivität des Genoms so beeinflussen, dass die Gene ein- und ausgeschaltet werden können. Seit einiger Zeit wissen wir, dass auch Umweltreize, all die Erfahrungen, die wir machen, Emotionen, die uns beschäftigen, Nahrung, die wir zu uns nehmen, die chemischen Prozesse aktivieren und Gene ein und ausschalten können.
Weshalb werden Gene ein- und ausgeschaltet? Jeder Zelltyp, den wir Menschen in uns tragen, beinhaltet den gesamten Genpool. Für die Funktion einer bestimmten Zelle, sagen wir mal einer Leberzelle, sind aber nur die Gene aktiv, die für die Leberzelle relevant sind. Und diese Aktivität kann durch die oben beschriebenen biochemischen Prozesse reguliert sein. Es geht nicht nur darum, ob ein Gen ein- oder ausgeschaltet ist, sondern auch darum, wie stark die Aktivität ist.
Hirnforscher konnten zeigen, dass traumatische Erlebnisse über Generationen hinweg vererbt werden und dass dafür epigenetische Faktoren verantwortlich sind. Ja, schreckliche Erlebnisse, wie eine Hungersnot, beeinflussen die epigenetischen Faktoren. Finden die Veränderungen im Zellkern statt und sind sie sehr stark, wird das Genom so gut wie immer verändert. Und diese Veränderungen können an die Nachkommen weitergegeben werden. Viele der Menschen, die Hunger leiden, bekommen Kinder, die untergewichtig sind. Wachsen diese Kinder heran und bekommen selbst Kinder, ist auch ihr Nachwuchs eher klein, selbst wenn kein Mangel mehr herrscht.
Werden nur Traumata weitergegeben oder auch positive Erlebnisse? Positive Erfahrungen lassen sich ebenfalls vererben. Versuche mit Mäusen¹, die in einem großen Käfig lebten, genug Nahrung bekamen, ein Rennrad zum Spielen hatten und miteinander interagieren konnten, zeigten, dass diese reiche Umgebung das Verhalten der Mäuse verbesserte. Diese Verbesserung gaben die Tiere an ihren Nachwuchs weiter.
Können viele positive Erfahrungen vererbte Traumata löschen? Bei den Mäusen geht das, ja. In einem Experiment trennten wir neugeborene Tiere jeden Tag zu unterschiedlichen Zeiten drei Stunden lang von ihren Müttern. In der Folge zeigten sie Verhaltensstörungen: Sie wurden depressiv und legten ein antisoziales Verhalten an den Tag. Diese Symptome konnten sich über fünf Generationen hinweg halten. Dann setzten wir Jungtiere, welche die Auswirkungen von Traumata vererbt bekommen hatten, in ein Mäuseparadies, in einen riesigen Käfig, mit allem, was eine Maus braucht, um ein schönes Leben zu haben. Als diese Tiere erwachsen waren, zeigten sie keine traumatischen Symptome mehr.
Funktioniert das Löschen von Traumata auch bei Menschen? Vielleicht. Wir wissen, dass zum Beispiel Psychotherapien, Psychoanalysen und Hypnosetherapien psychiatrische Erkrankungen verbessern können. Möglicherweise haben diese Verbesserungen mit epigenetischen Mechanismen zu tun. Das kann untersucht werden. Man könnte Menschen, die früh in ihrem Leben Traumata erlebt haben und nun eine Psychotherapie machen, vor und nach der Therapie epigenetisch analysieren.
Können wir bewusst vergessen? Nein, das geht wahrscheinlich nicht. Wir können das Vergessen trainieren. Etwa indem wir mithilfe einer Psychotherapie versuchen, ein traumatisches Erlebnis abzuschwächen. Komplett löschen können wir es in den meisten Fällen aber nicht.
Manche Menschen vergleichen unser Gehirn mit einem Computer, sie sagen, es funktioniere wie eine Festplatte. Was sagen Sie zu diesem Vergleich? In einem Computer gibt es niemals so viel Plastizität wie in einem Gehirn. Ein Computer ist fix verdrahtet, ein Gehirn nicht. Sind in einem Gehirn zum Beispiel durch eine Krankheit oder einen Unfall Areale beschädigt, können andere Gehirnregionen die Aufgaben der beschädigten Areale übernehmen. Ist in einem Computer etwas beschädigt, funktioniert er nicht mehr. Das Human Brain Project, ein Forschungsprojekt der Europäischen Kommission, will die Funktionen des Gehirns mittels Computer simulieren. Wird man auch menschliche
Eigenschaften wie Esprit, Humor, Schlagfertigkeit abbilden können? Ich denke nicht. Man kann nur etwas abbilden oder simulieren, das man versteht. Wir aber wissen noch nicht, wie sich Humor, Esprit, seelische Befindlichkeiten oder auch Emotionen im Gehirn bilden. Die Basis für neuronale Funktionen sind Aktivitäten zwischen zwei Neuronen. Es gibt viele Neuronen im Gehirn, fast hundert Milliarden, entsprechend gibt es unzählige Möglichkeiten, wie Neuronen miteinander agieren. Kein Computer kann all diese Möglichkeiten exakt reproduzieren. Auch ist noch längst nicht in jedem Fall bekannt, welche Neuronen miteinander in Verbindung treten.
Sind Gehirn und Geist dasselbe? Der Geist kann ohne das Gehirn nicht existieren. Um über den Geist nachzudenken und darüber zu sprechen, braucht man ein Gehirn, aber dasselbe ist es nicht. Das Gehirn hat mehrere Aspekte, einen anatomischen, einen physischen und auch einen konzeptuellen. Geist ist ein Konzept, ein Aspekt des Gehirns, der aber weit über unser Denkorgan hinausreichen kann.
Was passiert in unserem Gehirn, wenn uns etwas auf der Zunge liegt? Wir wissen, dass in solchen Momenten der Dateninformationsabruf nicht richtig funktioniert. Das ist ein sehr schneller Prozess. Wenn ich Sie zum Beispiel frage: »Können Sie sich an Ihre Hochzeit erinnern?«, haben Sie innerhalb von einer Sekunde Bilder vor Ihrem inneren Auge, auch wenn das Ereignis selbst einige Jahre zurückliegt. Sie sehen die Zeremonie, die Gäste, den Ort. Wenn uns nun etwas auf der Zunge liegt, etwa ein Wort, dann wissen wir, dass das Wort zwar im Gehirn gespeichert ist, aber wir können es nicht finden. Die Hirnforschung weiß noch nicht, was genau den Dateninformationsabruf blockiert.
Wie wirkt virtuelle Realität auf unser Gehirn? Es gibt Studien, die zeigen, was mit dem Gehirn von Menschen passiert, die sich vermeintlich im Körper einer anderen Person befinden. Man ließ die Versuchsteilnehmer mittels virtueller Realität glauben, sie spielten Pingpong, und maß dabei mit Magnetresonanztomografie ihre Gehirnaktivität. Es zeigte sich, dass bei den Menschen, die virtuelles Pingpong spielten, beinahe dieselben Gehirnareale aktiv waren, wie bei Menschen, die tatsächlich Pingpong spielten.
Verändert das Internet unser Gehirn? Ja, bestimmt. Das Internet ist ein Tool, mit dessen Hilfe wir Informationen gewinnen. Und wenn wir etwas Neues erfahren, wird unser Gehirn durch das Entstehen von Neuronen und Synapsen verändert, wie im realen Leben auch. Im Internet einen Text lesen, ein Spiel spielen, ein Video ansehen oder Musik hören kann eine intensive Gehirnaktivität auslösen.
1 K. Gapp, J. Bohacek, J. Grossmann, A. M. Brunner, F. Manuella, P. Nanni, I. M. Mansuy: »Potential of Environmental Enrichment to Prevent Transgenerational Effects of Paternal Trauma«, Neuropsychopharmacology (2016).
Format:
13.4 x 21 cm, 224 Seiten
ISBN: 978-3-0369-5832-3