Es beginnt mit einer Geburt. Während die Ich-Erzählerin Maria an ihre eigene Kindheit in Paris zurückdenkt, rekonstruiert sie parallel die Kindheit ihrer Eltern: Victoria, geboren in Galicien, und Julián, einige Kilometer weiter in Bilbao. Beide wurden direkt nach ihrer Geburt weggegeben. Jahre später begegnen sie sich, verlieben sich ineinander, wandern gemeinsam nach Frankreich aus, bekommen eine Tochter.
Maria erzählt von drei Kindheiten, doch je tiefer sie eintaucht und je näher sie ihrer eigenen Geschichte kommt, desto dringlicher werden die Fragen: Ist wirklich alles so passiert, wie man es ihr erzählt hat? Und wer ist sie selbst, wenn auf einmal an ihren Wurzeln gerüttelt wird?
PROLOG
Man erinnert sich nicht an den Moment seiner Geburt. Ich erinnere mich nicht an meine, das ist von Geburt an so. Es ist schlicht unmöglich, die Hirnstrukturen, die für Erinnerungen zuständig sind, sind bei Säuglingen noch nicht ausgebildet. Ich weiß nur das, was man mir darüber erzählt hat. Du, Mamá, wie war es eigentlich, als du mich geboren hast? Pues como todo el mundo. Na, wie bei allen anderen eben. Eine Frau, eine Gebärmutter, ein Fötus, ein Neugeborenes im Anmarsch. Das ist die Reise, der Modus Operandi, wie ich ihn in meinem Kinderkopf sehe, in meinem Jugendlichenkopf, sogar noch in meinem Erwachsenenkopf. Vor mir eine Szene in einem Krankenhaus oder einer Klinik. Eine Frau liegt auf einem Bett. Sie schwitzt, ihr Atem geht stoßweise, ihre Beine sind breit aufgestellt wie bei der Gynäkologin. Sie presst mit aller Kraft, ein Arzt beugt sich zwischen ihre Beine und verschwindet hinter einem Laken. Dann der erste Schrei. Ein Mädchen. Ich hatte amerikanische Seifenopern schon mit der Muttermilch aufgesogen, dazu die Horrorfilme donnerstagabends auf M6, Kinoabend auf TF1 jeden Sonntag und La dernière séance von Eddy Mitchell auf FR3, und in meinem kindischen Hirn stellte ich mir meine Geburt sehr lange so vor. Mit meiner Mutter und mir als Hauptdarstellerinnen. Das Ganze auf Spanisch, denn das wusste ich mit Gewissheit. Ich war an einem 2. November in Bilbao geboren worden, in Spanien. Der Dialog der Szene wäre also auf Kastilisch. Das r wird gerollt, wie es sich gehört, und vermutlich wird auch gehörig geflucht. Das alles ist reine Fantasie, und ich sollte erst viel später verstehen, weshalb. Weshalb ich Regisseurin werden wollte.
Ich hatte eine Inszenierung im Kopf, aufeinanderfolgende Bilder, die das Unbekannte erzählen würden, dieses klaffende Loch, den Ursprung der Welt. Um das zu tun, müsste ich den Beruf der Regisseurin erlernen. Dann könnte ich mich dazu entscheiden, eine Großaufnahme zu drehen, mit Teleobjektiv auf das Gesicht der entbundenen Frau. Und Action.
ERSTER TEIL
1
Der Tintenfisch spuckte schäumenden Speichel auf die Felsen, als Dolores ihn packte. Sie hatte keine Angst vor ihm, sie hielt ihn an der Stelle unter seinem Kopf umklammert, wo sich die Tentakel ausbreiteten. In seiner vollen Länge musste der Kopffüßer auf einen Meter kommen. Langsam schlang er einen seiner schleimigen acht Tentakel um Dolores’ Arm. Keine Spur von Entsetzen oder Ekel angesichts dieser Umschlingung des Tiers. Dolores marschierte vom felsigen Strand bis zu dem Betonbunker, der ihr als Haus diente. Trotz der Januarkälte, dieser feuchten und mörderischen Winterkälte an der Küste Galiciens, hatte sie bloße Arme. Sie trug ein leichtes Sommerkleid mit Blumen, denn nichts anderes passte mehr, ihr schwangerer Bauch stand kurz vorm Bersten. Ein Windstoß erhob sich und peitschte ihre beinahe verbrannten Wangen. Mit zusammengekniffenen Augen, damit sich keine Sandkörner unter ihre Lider schoben, ging sie ins Haus. Ein schmuckloser, farbloser Klotz aus Beton ohne jegliches Bestreben nach Schönheit. Das Haus stand allein, vom Wind gebeutelt, in diesem kleinen Tal am Ozean und einen Kilometer vom kleinen Dorf Gateira entfernt. Wie kann ein Mensch so wenig architektonische Ambitionen haben? Im Erdgeschoss gab es ein Zimmer für alles, darüber wurde geschlafen. Die einzige Koketterie des Kastens war der Innenhof, wo die Wäsche trocknete und sich der Altar der ehrwürdigen Hausfrauen der Region befand: ein Spülstein, in dem Dolores die Wäsche schlug, den Tintenfisch und ihren Sohn. Als sie begann, mit einem Stock heftig auf den Schädel der Krake einzudreschen, setzte ihre erste Wehe ein. Dolores erkannte, was sich dort in ihr zusammenbraute. Es war weniger schmerzhaft, als wenn Santiago sie schlug, weniger qualvoll, als wenn er gewaltsam in sie eindrang. Im Geiste rief sie den Herrn an, die Heilige Jungfrau, Fatima und eine ganze Reihe von Märtyrerinnen. Bitte macht, dass er nicht so schwachsinnig ist wie der Erste. Dass er aufs Meer fahren und Kabeljau fischen kann. Dass er mir eigenhändig ein schönes Haus baut. Dass er mich verteidigt, wenn sein Vater es wagt, die Hand zu erheben. Der Tintenfisch rang mit dem Tod. Dolores fuhr mit ihrem Werk fort, schlug brutal auf ihn ein. Die Wehen kamen nun schneller, man konnte es an der dreieckigen Form erkennen, die ihr Bauch annahm, und an ihren Lippen, die sie unvermittelt zusammenpresste und zu einer Grimasse verzog. Sie wollte nicht laut aufschreien. Stattdessen suchte sie im Inneren des Tiers nach dem schwarzen Schatz. Den Blick zum Himmel gerichtet, ließ sie sich von ihrem Tastsinn leiten und lächelte: Da war der Zaster. Behutsam, mit Zeigefinger und Daumen, zog sie den durchsichtig schimmernden Beutel hervor, der den köstlichen dunklen Saft enthielt. Dolores ging konzentriert vor, sie wollte ihn nicht zerreißen, doch eine nächste Wehe brachte sie ins Wanken. Unter der elektrischen Ladung in ihrem Körper krümmten sich ihre Finger. Die Blase zerplatzte, und die schwarze Tinte ergoss sich über ihre Hände und ihre weißen Beine. ¡Jesús!, schrie sie. Und meinte damit nicht den Sohn Gottes, sondern ihren eigenen. Jesús, fünf Jahre alt, Engelsgesicht, ein Lächeln wie ein Idiot. Er kam angelaufen. Sein Gesicht war verdreckt, aber es lag das freudige Strahlen des Kindes darauf, das endlich von seiner Mutter gerufen wird. Sie schickte ihn davon, damit er die Nachbarin holte. ¡Date prisa, imbécil! Jesús rannte los.
In der Zwischenzeit ging Dolores ins Haus und setzte Wasser auf, ihr Gesicht vor Schmerzen verzerrt, doch ohne den geringsten Laut, ohne ein einziges Stöhnen von sich zu geben. Das sparte sie sich für später auf. Sie legte sich hin. Jesús kam mit der alten Clara herein. Schweigend kniete die Nachbarin sich zu Füßen der Mater Dolorosa, die die Beine aufgestellt hatte. Ya está aquí. Er ist schon da. Jesús huschte hinter den gekrümmten Rücken der Hebamme, um zuzusehen. Unter Claras faltigen Händen konnte man, umkränzt von Schamhaar, den mit Flaum bedeckten Kopf des Neugeborenen erkennen. Empuja. Pressen. Dolores stieß das, was sie in den letzten Monaten so sehr eingeschränkt hatte, mit einem Mal ab. Was ist es?, wollte sie wissen. Clara hielt den Säugling in Händen. Nur ein Blick, und sie begriff, welches düstere Schicksal das Kind erwartete. Sie sah Dolores an und antwortete: Es ist ein Mädchen. Diese Schmach nahm Dolores nicht hin. Sie hatte um einen Sohn gebeten, einen echten, einen starken, nicht um das hier. Nicht um eine Tochter. Die wollte sie nicht. Bring sie zu den Nonnen, sonst will doch niemand ein Mädchen. Clara zog ein kleines Spickmesser mit einer geschwärzten Klinge aus ihrer Schürzentasche und schnitt die Nabelschnur durch. Dolores stand wortlos auf, wischte sich das Blut aus dem Schritt, als hätte sie gerade uriniert, und machte sich beschwerlich auf den Weg nach draußen. Sie ging zum Spülstein, und erst dort fing sie an, sich die Seele aus dem Leib zu erbrechen, direkt neben dem toten Tintenfisch. Jesús hatte keinen Ton von sich gegeben. Tränen liefen ihm über das Gesicht, und der Schmutz auf seinen Pausbäckchen zerrann.
So kam es, dass Clara, die Nachbarin, das bemitleidenswerte namenlose Mädchen hochnahm und es eiligen Schrittes zum Kloster Santa Catalina brachte, das in der ganzen Gegend bekannt war für sein himmlisches Flanrezept. Sie klopfte ans Tor, das Baby in ein weißes Tuch gewickelt wie eine große Wurst. Meine Nachbarin möchte es nicht, sie hat kein Geld, ihr Mann ist auf See, ihr einziger Sohn ist tonto. Sie überreichte das Mädchen. Die Ordensschwester nahm es entgegen und beschloss, ihm ein anderes, charmanteres Schicksal zu schenken: Am Tag nach Dreikönig gab sie dem Wonneproppen den Namen Victoria. Ein erster Sieg über die Hölle. Victoria ist meine Mutter.
Originaltitel: Les gens de Bilbao naissent où ils veulent
Aus dem Französischen
von
Corinna Rodewald
Format:
192 Seiten
ISBN: 978-3-0369-9686-8
Maria Larrea wurde 1979 in Bilbao geboren und ist in Paris aufgewachsen, wo sie später an der Fémis ein Filmstudium absolvierte. Sie ist Regisseurin und Drehbuchautorin. Die Kinder von Bilbao ist ihr erster Roman.